Dieser Tag beschert ein surreales Erlebnis: Wir sind in der Ukraine. Nur eine Stunde lang, aber eine wichtige Stunde lang. Die entscheidende Stunde dieser Reise.
Die Nacht ist kurz, nicht mehr als vier Stunden lang. Sie endet mit dem Gefühl, keine Sitzposition mehr im Auto zu finden, die bequem genug ist, um weiterzuschlafen (warum sind die Sitze in dem Transporter eigentlich nicht so gebaut, dass man sie auch nach hinten klappen kann???). Draußen ist es schon hell. Die Uhr mussten wir schon in Rumänien umstellen, eine Stunde nach vorn. Jetzt ist es 6.30 Uhr Ortszeit. Ein paar hundert Meter weiter, gleich neben dem Zeltlager des UNHCR, stehen ein langes, weißes Zelt, „donated by Switzerland“, Dixiklos und mehrere Container. Es ist der Empfangsort für Flüchtlinge aus der Ukraine. Wir parken dort, wo auch mehrere Busse mit moldawischen Kennzeichen stehen. Sie fahren für das UNHCR. Die Kleineren sind als Zubringer zwischen der etwa drei Kilometer entfernten Grenze und dem Empfangsort unterwegs, große Busse bringen die Flüchtlinge in andere Orte, zum Beispiel in die Hauptstadt Chisinau.
Eisiger Wind und festgefahrene Erde
Wir erkunden zuerst einmal zu Fuß den großen Platz. Der Boden – Erde. Bei Regen wird das richtig schlammig, aber gleich nebenan präparieren Bauarbeiter den Untergrund mit Kies und Sand. Die Moldawier richten sich offenbar darauf ein, dass der Empfangsort und das Zeltlager nebenan noch lange gebraucht werden. Über den Platz, den keine Bäume und keine Gebäude schützen, fegt der Wind. Er rüttelt kräftig an dem weißen Zelt aus der Schweiz, in dem um diese Zeit noch nichts los ist. Logisch, denn auf der anderen Seite der Grenze ist nachts Sperrstunde, da kommen keine Flüchtlinge an. Tee und Kaffee gibt es schon. Jeder nickt freundlich, als wir vorsichtig fragen, ob wir vielleicht auch heiße Getränke bekommen könnten. Das rettet uns den Morgen. Das heiße Wasser kommt aus großen Elektrokesseln, es gibt schwarzen Beuteltee und Instantkaffee. Die Heizpilze im Zelt sind noch nicht eingeschaltet um diese Zeit, aber die weißen Wände schützen vor dem Wind. So lässt es sich aushalten und der frühe Ostermontag-Morgen fühlt sich sogar ein wenig angenehm an.
Etwa zwei Stunden später setzen sich die ersten UNHCR-Busse in Bewegung. Das ist das Zeichen, dass an der Grenze Flüchtlinge angekommen sind. Auch wir müssen dorthin, denn unsere Spenden sollen auf ukrainischer Seite in einen Bus umgeladen werden. Also fahren wir zur Grenze, zunächst aber nur, um dort die Lage zu erkunden. Am Vorposten mit Schranke stehen vier moldawische Polizisten. Sehr freundlich erklären sie uns in russischer Sprache, dass wir gar nicht viel Zeit einplanen müssen für den Seitenwechsel in die Ukraine. Wir wissen: 13 Uhr trifft der Bus aus Mykolaiv ein, der Zielstadt für unsere Spenden. Er fährt täglich, Linienverkehr für Flüchtlinge. Wir planen, 11 Uhr an der Grenze zu sein.
Lange Fahrt und kurzer Abschied
Elina, unsere Mitfahrerin, nutzt die Gelegenheit, um sofort weiterzureisen. Schon der erste Autofahrer, der ein ukrainisches Kennzeichen hat und gerade vor der Schranke steht, klappt die Beifahrertür auf und nimmt sie mit nach Odessa. So lange, wie wir miteinander nach Palanca gefahren sind, so kurz wird der Abschied. Es muss schnell gehen, wir umarmen uns, wünschen ihr eine gute Reise, dann rennt Elina mit ihrer Tasche zu dem Auto, das schon wenige Minuten später nicht mehr zu sehen ist. Gegen Mittag schreibt sie uns, aus Odessa: Sie ist gut angekommen, ist im Bahnhof und wartet auf ihren Zug.
Wir fahren zurück um Empfangsplatz und genehmigen uns noch etwas Kaffee und Tee, als mich ein moldawischer Polizist anspricht. Ich sehe schon aus den Augenwinkeln, dass der Uniformierte zu mir kommt und frage mich im gleichen Augenblick, was wir falsch gemacht haben, was jetzt wohl passieren könnte. Der Kollege gehört zur Grenzpolizei, zeigt eine Aufschrift auf seiner Uniform. Er spricht mich auf russisch an, fragt, woher wir kommen. Pflichtgemäß gebe ich Auskunft, seine Mine bleibt zum Glück entspannt. Dann fragt er, ob wir noch etwas länger bleiben und Flüchtlinge mitnehmen würden. Das haben wir vor, erkläre ich ihm. Und er? Er sagt, dass er das gut findet, bedankt sich und weist uns auf das Zelt mit der Verpflegung hin – dorthin könnten wir auch gehen.
Pünktliche Linienbusse aus dem Kriegsgebiet
Wir fahren jetzt aber lieber zur Grenze, um den Bus zu erreichen, in den unsere Spenden umgeladen werden sollen. Der Übergang von Moldawien in die Ukraine ist eine Sache von Minuten und währenddessen erkennen wir, dass auf der anderen Seite zwei Zelte für die Flüchtlinge stehen. In einem werden sie registriert, im anderen gibt es Kaffee, Tee, Wasser und etwas zu essen für die ankommenden Menschen aus der Ukraine. Wir bekommen Einreisestempel in unsere Pässe, werden durchgewinkt und steigen gerade aus dem Vito aus, als auch schon der grüne Linienbus ankommt, in den wir unsere Spenden umladen sollen. Wie angekündigt ist er pünktlich 13 Uhr Ortszeit da. Wjatscheslaw heißt der Fahrer, haben wir zuvor telefonisch aus Mykolaiv erfahren. Kaum sind die Flüchtlinge ausgestiegen, auch aus den zwei anderen Bussen, die mitgekommen sind, erkennen wir Angela, die sich zuvor in Mykolaiv via Internet für die Fahrt mit uns nach Dresden angemeldet hatte. Sie hat einen jungen Hund dabei, einen Jack Russel Terrier, und vier große Taschen. Aus einem der anderen Busse wird ein großer Koffer auf einer alten Sackkarre ausgeladen – den sollen wir für eine unserer Flüchtlingsfamilien nach Dresden mitnehmen.
Slawa, so der Spitzname von Wjatscheslaw, ist sofort klar, wer wir sind. Er dirigiert den Vito genau neben die Mitteltür seines Busses. Gemeinsam mit einem Kollegen hilft er beim Umladen der Kisten, sie packen sie in die Busmitte. Auch den Kanister mit frischem Quellwasser für den Bruder meiner Frau. Seit Tagen kommt bei ihm kein Tropfen Wasser mehr aus der Leitung. Das soll ganz Mykolaiv betreffen, haben wir gelesen, eine wichtige Zuleitung ist kaputt. Keiner weiß genau, wieso, womöglich wurde sie beschossen. Jedenfalls holen sich die Einwohner jetzt Wasser aus dem Fluss, um sich zu waschen oder für die Toilette, Trinkwasser in Läden gibt es nicht mehr, wer einen frischen Tee möchte, muss Glück haben und Wasser aus einem Tankwagen bekommen. Da stehen die Leute Schlange… Jetzt hat Vitali 20 Liter frisches Quellwasser aus den Karpaten…
Zum Schluss ist noch Zeit für einen Schwatz mit Slawa und seinem Begleiter. Auf die Situation in Mykolaiv angesprochen, sagt er, die Fahrt dorthin sei sicher, aber in der Stadt sei es gefährlich. Als Beleg zeigt er ein Video aus einem Bus, den er gerade steuert. Man hört Schüsse, Slawa geht in Deckung, aber er zieht durch und wird nicht getroffen. Fahrgäste sitzen nicht im Bus. Ein Foto zeigt Einschusslöcher an seinem grünen Linienbus aus Mykolaiv.
Slawa und sein Begleiter müssen zurück, wir auch. Wir müssen jetzt kurz Schlange stehen, eine Stunde nach der Einreise bekommen wir den Ausreisestempel in die Pässe, laden unsere Mitfahrerin Angela ein und kehren zurück auf den Empfangsplatz in Palanca, um dort noch etwas unsere Mitfahrmöglichkeit anzubieten. Die Volunteers auf dem Platz sind gefühlt mehr als die Geflüchteten, schließlich findet sich Natascha, die nach München möchte und unser Angebot gern annimmt.
Bessere Straßen aber kaum Zeitgewinn
Etwa um 16.30 Uhr verabschieden wir uns aus Palanca. Jetzt im Vito: Zwei Fahrer, meine liebe Frau und ihre Katze, die im Bus aus Mykolaiv mitgebracht wurde, unsere zwei neuen Mitfahrerinnen und ein kleiner braun-weißer Terrier. Knapp 31 Stunden Rückfahrt stehen uns bevor. Der Kilometerzähler zeigt 2056 km an – das war die Strecke von Dresden nach Palanca. Zurück fahren wir aus Moldawien eine andere Strecke in der Hoffnung, dass die Straßen besser sind. Wir kommen durch die belebte Hauptstadt Chisinau und sind nach 220 Kilometern an der Grenze nahe der rumänischen Großstadt Iași. Von dort führt uns das Navi zurück auf die Strecke durch die Karpaten, die wir schon auf dem Hinweg gefahren sind. Fazit: Die Straßen durch Moldawien waren „obenrum“ tatsächlich besser als im Süden des kleinen Landes, viel Zeit gewonnen haben wir aber nicht. 32 Stunden sind wir nach Palanca gefahren, 31 werden es schließlich auf dem Weg zurück. Nach drei Tagen und fünf Stunden kommen wir in der Nacht zum Dienstag nach Ostern wieder in Dresden an.
Unsere zwei Mitfahrerinnen Angela und Natascha bringen wir noch zur Diakonie am Hauptbahnhof. Dort können sie später übernachten, weil sie mit Hund nicht in die zentrale Aufnahme an der Messe dürfen. Der Nachteil – sie müssen in dieser Nacht noch zwei Mal durch Dresden gefahren werden und kommen später als gedacht zum Schlafen. Der Vorteil: Am nächsten Tag sind es nur ein paar Meter bis zum Zug für die Weiterreise. Dresden/csp
Fortsetzung folgt
[…] sind Teil 1 und Teil 2 dieses Reiserückblicks zu […]