1.800 Kilometer Fahrt und eine in dieser Zeit eher bedrückende Stadt haben wir erlebt und tragische Neuigkeiten gehört. Und dazu eine neue Idee im Kopf.
Chełm war diese Reise wert. Aber auch nur, weil sich dort ein Lager befindet, in das wir „unsere“ Hilfsgüter für Mykolaiv in der Südukraine bringen mussten. Was wir dort gehört und gesehen haben, die Eindrücke, die wir sammeln konnten, ließen uns (mal wieder) erkennen, wie gut es uns geht, wie wenig Grund wir zur Klage haben, wie schön Dresden ist. Und sie lassen uns nicht los.
Am Dienstagmorgen um 5 Uhr beginnt die Reise nach Osten. Sicherheitshalber sehr zeitig, weil im gemieteten Hilfsgüter-Lager in Chełm 18 Uhr Arbeitsschluss ist. Wir wollen bis dahin unbedingt abgeladen haben – und wir haben das problemlos geschafft. Schon vor 16.30 Uhr kommen wir an – nach einer Fahrt auf perfekten polnischen Autobahnen, die wir dank einer Entscheidung des polnischen Infrastrukurministeriums mautfrei nutzen durften. Drei Gebäude stehen auf dem Grundstück am Rand eines Industriegebiets im Osten der Stadt. In einem davon befindet sich ein großes Lager, in einem anderen ein kleines Büro, in dem wir Victoria Smelyk treffen. Sie ist unsere Ansprechpartnerin vor Ort, stammt aus dem ukrainische Luzk und ist im Frühjahr nach Polen geflüchtet. Jetzt lebt sie in Chełm, kommt nur selten nach Hause und organisiert vor Ort den Empfang und den Weitertransport von Hilfsgütern.
Schnell organisiert sie einen jungen Mann, der uns beim Ausladen hilft, am Ende stehen auf vier Paletten fast mannshohe Kistenstapel. Wir sind überrascht, wieviel in den Transporter von Jan Neumann gepasst hat und bemerken in diesem Moment nicht, dass wir auch einen Teil seiner Spanngurte „gespendet“ haben, die er uns für die Ladungssicherung mitgegeben hatte. Jan hat uns das letztlich nicht übel genommen. Victoria erzählt uns noch von Angriffen am gleichen Tag, unter anderem auf ihre Heimatstadt und auf Lwiv (Lemberg). Sie musste viel telefonieren, klären, ob ihre Lieben in Ordnung sind, und kann gerade nicht sagen, ob im zentralen Lager in Lemberg, in das unsere Kisten demnächst gebracht werden sollen, nach diesen Angriffen auf die Stadt alles funktioniert. Aber sie versichert uns, dass die vier Kistenstapel in der kommenden Woche, vielleicht am Mittwoch, in Mykolaiv ankommen.
Wir verabschieden uns und fahren zu unserem Hotel. Es ist das Hotel Lwiw, gleich neben dem Rathaus. Nur fünf Minuten müssen wir bis dahin fahren. Es ist neblig, dunkel, es riecht nach Rauch. Der Qualm aus den Heizungsschornsteinen zieht nicht ab, er vernebelt die Stadt zusätzlich. Es sind schon um diese Zeit kaum Menschen auf den Straßen zu sehen. Das Hotel ist ok, nahe dem Zentrum von Chełm. Nach ein, zwei Bier im Hotelrestaurant laufen wir dorthin – zum Abendessen. Die Stadt wirkt bedrückend, nicht mehr als zehn Menschen begegnen wir auf unserem Fußmarsch zum rund 1,5 Kilometer entfernten Marktplatz, die meisten Hausfenster sind dunkel. Wo sind die Menschen, selbst im Krankenhaus sind die meisten Fenster schwarz. Es fühlt sich an, wie kurz vor Mitternacht, es ist aber erst kurz nach 17 Uhr. Schließlich finden wir ein Restaurant, wir sind – wie erwartet – die einzigen Gäste um diese Zeit, essen gut und fahren dann mit dem Taxi zurück. Knapp zehn Minuten dauert die Fahrt, sie kostet weniger als drei Euro. Wohlgemerkt: In einem offiziellen Taxi…
Den Abend bestimmen schlechte Nachrichten. Zwei Raketen oder zumindest deren Trümmerteile sind in einem rund 100 Kilometer entfernten polnischen Dorf einschlagen und haben zwei Menschen getötet. Weit weg von uns, aus Dresdner Sicht aber sehr nahe bei uns. Hat sie das russische Militär nach Polen geschossen? Kamen sie aus Belarus? Waren es ukrainische Raketen? Wir googeln, lesen, beruhigen die Lieben zu Hause und ich fühle mich zugleich unendlich beschämt von Angst vor dem Bisschen… Wie muss es den Menschen gehen, die wirklich darunter leiden, die wirklich nahe dran sind, deren Hab und Gut, deren Wohnung, deren Angehörige getroffen wurden oder die selbst Verletzungen erlitten haben?…
Wir fahren am nächsten Morgen nach Hause. Nach einem ordentlichen Frühstück im Hotel und Richtung Westen – weit weg vom Krieg in der Ukraine. Weit genug jedenfalls, um uns höchstens noch mit steigenden Energiepreisen, teurer werdenden Lebensmitteln und der Frage beschäftigen müssen, was das möglicherweise mit dem Krieg in der Ukraine zu tun hat. Dresden/csp